
Pop-Literatur ist schon ein komischer Begriff. Wörtlich gelesen müsste er für populäre Literatur stehen – also für alles, was der Allgemeinheit zumindest vom Namen her etwas sagen müsste. Bei den Büchern, die hier nachfolgend eine Rolle spielen, handelt es sich allerdings um Literatur, die Pop-Musik zum Thema hat oder zumindest im Umfeld einer pop-kulturellen Praxis entstand, die auch mehr oder weniger aktuelle Pop-Diskurse aufgreift. Hier soll die Rede sein von Andreas Neumeister und von Thomas Meinecke, zwei (zufälligerweise) in München ansässige Autoren. Danach als Bonus noch kurz etwas über Herrn Wolfgang Müller.

Andreas Neumeisters Buch „Gut laut“ (Suhrkamp 1998) wird vom Verlag zwar als Roman geführt, hat aber meines Erachtens mit dieser Erzählform wenig zu tun. Eher handelt es sich hier um einen Gedankenstrom, der sich insbesondere um München und Musik sowie damit verbundenen Kindheitserinnerungen dreht. Es geht um The [Disco-] Sound Of Munich und das glamouröse München der 70er Jahre, aber auch um das München der Jetztzeit, in dem Leute wie DJ Hell leben und arbeiten. Unterbrochen wird dieser Gedankenstrom immer wieder durch z.B. Bildunterschriften – zu denen es keine Abbildungen gibt -, Auflistungen verschiedenster Dinge (darunter auch recht komplett wirkende, literarisch spielerisch verpackte Zusammenstellungen der Pseudonyme/Projekte von Aphex Twin oder Mike Ink) oder auch einfach mal einer leeren Seite (Stille im Sinne von John Cage?). Kompositionsprinzipien und Stilelemente, wie sie Neumeister auch schon bei seinem Vorgänger „Ausdeutschen“ (1994) verwendet hat, aber hier zum Thema Musik besser passen. Gerne wird soetwas mit der Tätigkeit eines DJs verglichen und in der Tat ist Neumeister auch als DJ und sogar als Hörspielautor unterwegs. Aber gab es soetwas ähnliches – okay, in radikalerer Form – in der Literatur nicht längst vor der Sampletechnologie und wurde damals Cut-Up genannt? Auf jeden Fall ist dieses Buch eine Freude für alle, die mit orange-schwarzen BASF-Cassetten und Lego-Bausteinen aufgewachsen sind und sich für Plastikmusik der 70er, 80er, 90er Jahre – also für Disco, New Wave, (Minimal) Techno und all dem Pop interessieren. Schöne Sache und ohne lästigen theoretischen Überbau.
Einzelne Textabschnitte aus „Gut laut“ fanden übrigens auch Eingang in die Hörspielproduktion „Prima leben und sparen“, die er zusammen mit Robert und Ronald Lippok von To Rococo Rot unter dem Projektnamen DOLORES im Jahr 1998 für den Bayerischen Rundfunk realisierte. Spätestens hier wird deutlich, dass diese Texte gut dafür geeignet sind, laut vorgetragen zu werden. Wen wundert es da, dass Neumeister 1996 den Sammelband „Poetry!Slam!“ zusammen mit Marcel Hartges herausgegeben hat…

„Tomboy“ (Suhr camp, 1998) von Thomas Meinecke wird ebenfalls als Roman kategorisiert, obwohl sich dieses Buch genauso wenig wie „Gut laut“ um die Pflege dieses Formates kümmert. Viel mehr reihen sich hier kurze Abschnitte aneinander, die wie Dreiminuten-Pop-Songs zusammen ein Konzeptalbum ergeben. In „Tomboy“ geht es um feministische Männer, um Frauen, die Frauen lieben, um Frauen, die Frauen lieben, die eigentlich Männer sind usw. usf. – gender troubles at it’s best. Das ganze spielt im Odenwald bzw. im lieblichen Heidelberg. Hier wird natürlich die Gelegenheit an Schopf gepackt, das dort ansässige Source Label mit ins Spiel zu bringen. überhaupt spielt Musik in diesem Buch eine nicht gerade kleine Rolle – mal reden die Protagonisten über irgendwelche Schallplatten oder Bands, die mehr oder weniger Bezug zum Thema haben. Für einen Vortrag von Judith Butler fährt man zwischendurch mal nach München. Ansonsten trifft man sich und diskutiert irgendwelche literarische Texte oder wissenschaftliche Quellen, auf die man als Philosophiestudentin gestoßen ist. Oder man liest sich gar vor (das Wort „man“ wurde von Thomas Meinecke übrigens ganz ausgemerzt und taucht in Tomboy auf keiner Seite auf. Politische Korrektheit bis ins Detail). Auf diese Weise werden verschiedenste Theorie- und Literaturschnipsel in dieses Buch hineingesampelt und anschließend mittels der mehr oder weniger agierenden Figuren zusammengehalten. Und zwischendurch gibt es noch ein paar banale Geschichten zu erleben, zu denen Meinecke bestimmt durch kleine Zeitungsmeldungen inspiriert wurde. Geschichten, die das Leben schrieb.
Mit der Frage „Warum kann ein Mann nicht lesbisch sein“ und dem Thema ‚Mark Twain in Heidelberg‘, das in diesem Buch auch kurz angeschnitten wird, hat sich Meinecke bereits vor Jahren in Liedform beschäftigt – zu hören auf der LP/CD „International“ von F.S.K. (1996, SubUp). Und den Titel „Tomboy“ trägt bereits ein im Jahr 1995 entstandenes Kunstwerk von Michaela Melián, der Musikerkollegin und Lebensgefährtin von Thomas Meinecke, das auszugsweise auch für das Layout des Schutzumschlages herangezogen wurde. Meinecke & Co. scheinen sich also schon länger mit dem Thema Gender zu beschäftigen. Im Katalogbuch zu Meliáns Ausstellung „Tomboy“ (1995) in der Kunsthalle Baden-Baden ist auch ein offensichtlich improvisierter Text von Thomas Meinecke und Thomas Palzer zu diesem Thema mit der Überschrift „I Gave My Cock A Woman’s Name“ enthalten. Und dieser Text fand wiederum Eingang in den Sammelband „Poetry!Slam!“. Der Kreis schließt sich. Die Welt ist klein. Hauptsache wir lassen die Kirche im Dorf.

Das Buch „Blue Tit – das deutsch-isländische Blaumeisenbuch“ des ehemaligen Mitglieds der Geniale-Dilletanten-Künstlergruppe Die Tödliche Doris wurde mindestens zwei Buchmessen lang als das bevorstehende neue Buch von Wolfgang Müller angekündigt und erschien letztendlich im Juli 1998 beim Martin Schmitz-Verlag. Vielleicht hat es sich vor allem durch die Übersetzung ins Isländische – das deutsch-isländische Blaumeisenbuch ist in der Tat zweisprachig gehalten! – verzögert. Oder lag es an den exzessiven Recherchearbeiten? Denn nahezu jede Kleinigkeit wird mit einer Fußnote belegt. Höhepunkt dabei sind die über zwanzig Anmerkungen zu Andreas Doraus Song „Blaumeise Yvonne“. Soviel übertriebener Fleiß läßt an Ironie denken.
„Blue Tit“ ist also kein Roman und schon gar kein Sachbuch zum Thema „Blaumeisen in Island“ – denn diese Meisenart gibt es dort garnicht – sondern ein alphabetisch geordnetes Sammelsurium zur isländischen Kultur. Und da packt Müller alles rein, was ihn so beschäftigt und interessiert. Das geht von Elfen über Flechten und Meisenknödel bis hin zu Islands einzigem Transsexuellen und anderen Obskuritäten. Diese einzelnen Sachverhalte werden teilweise in Art von Zeitungsreportagen dargelegt oder in Form von Interviews näher gebracht. Wobei einzelne Kapitel ja auch bereits tatsächlich in Zeitungen wie der Berliner taz veröffentlicht wurden. Desweiteren sind hier die schriftliche Dokumentationen eines Hörspiels sowie Auszüge aus einem Roman von Úlfur Hródólfsson enthalten, der offensichtlich mit Wolfgang Müller identisch ist. Trotz allem erfährt man viel Wissenswertes über Island und seine Seltsamkeiten, sollte diese Informationen aber am besten persönlich am Ort nachprüfen. Solche Schlitzohren wie Wolfgang Müller darf man nun mal nicht wörtlich nehmen, vor allem, weil da ein recht verschrobener Humor mitschwingt, der mit so ernster Miene dargeboten wird, dass unvorbereitete Menschen in Schleudern geraten könnten. Oder handelt es sich hier etwa doch um Kunst?
(überarbeitete Wiederveröffentlichung, geschrieben im Januar 1999 für Bad Alchemy)