
Die Deutsche Demokratische Republik scheint ja leider kein besonders populäres Reiseland zu sein und ohne daß man dort ‚drüben‘ Verwandte hat, werden sich nur wenige Bundesbürger in Deutschlands Osten gezogen fühlen. Als wir (Stefan und Guido) allerdings von einem Bekannten, den wir bislang nur von Briefen her kannten, zu den 12. Leipziger Jazztagen [1987] eingeladen wurden, sagten wir natürlich zu. Schließlich war man neugierig auf das andere Teil Deutschlands.
Nachdem wir also am Grenzübergang Hirschberg die ganzen Formalitäten mit den Zollorganen der DDR ohne größere Probleme überstanden und unser Eintrittsgeld plus Verzehrbons (sprich: Visagebühr plus Zwangsumtausch) gezahlt hatten, fuhren wir in Richtung einer kleinen Stadt im Kreis Döbeln, wo wir schon von unserem Bekannten samt Family erwartet wurden, deren Wohnlage recht illuster ist:
Zu dem alten Backsteinhaus, das sich noch in Privatbesitz befindet, gelangt man, indem man am Knast links abbiegt, und wenn man aus den hinteren Fenstern der Wohnung guckt, die sich in einem oberen Stockwerk befindet, kann man in den Hof der Psychiatrie blicken, in dem die Insassen dieser Anstalt hinter den hohen Mauern nachmittags ihre Kreise ziehen; irgendwie fühlte ich mich bei diesem Anblick an den Film „Einer flog über das Kuckucksnest“ erinnert.
Bei einer Tasse Kaffee kommt man schnell ins Gespräch über dies und jenes und stößt dabei selbstverständlich immer wieder auf den Vergleich von Hier und Drüben. Und dabei fällt auch immer wieder auf, daß unsere Bekannten besser über unsere Verhältnisse informiert sind als wir über deren; Westfernsehen macht’s möglich. Und eigentlich möchte ich jetzt nicht so auf die Unterschiede eingehen, bevor man mir vorwirft, ich wiederhole nur Klischees, die man eh andauernd hören kann. Aber trotzdem bestätigten sich diese Vorstellungen, die man vom Leben in der DDR nun mal hat, allerdings macht man dort halt das beste aus dieser Situation, während man als verwöhnter Außenstehender sich nur wundern mag und sich unwohl fühlt. Man hilft sich hier halt mehr untereinander aus, indem man z.B. Kinderkleidung austauscht und sich gegenseitig beim Wohnungsrenovieren hilft. Denn auch an Handwerker kommt man nicht so leicht heran, vor allem weil anscheinend diese alle die Hauptstadt der DDR Berlin zur 750-Jahre-Feier aufmöbeln mußten. Es lebe das Prestige. Scheint überall das Gleiche zu sein…….
Dresden
Am zweiten Tag unseres 5-Tages-Aufenthalts machten wir uns auf, um Dresden anzugucken. Wir fahren also auf der Autobahn ins ‚Tal der Ahnungslosen‘ ein, da so genannt wird, weil es dort (rund um Dresden) nicht möglich ist, West-Sender zu empfangen. Nur im luxuriösesten Hotel Bellevue soll dies dank Verkabelung möglich sein, erzählt man sich. In Dresden, der Stadt der Kunst und Kultur und heute auch der Industrie, gibt es viele alte Bauwerke, u.a. aus dem Barock, zu sehen. Eines der berühmtesten Bauten ist ‚Der Zwinger‘, der der Würzburger Residenz nicht unähnlich ist; nur macht es die Industrieluft dem Gebäude nicht gerade leicht. Nicht unweit davon findet sich im Innenstadtbereich, der viel gepflastert ist, die Semper-Oper, die noch vor garnicht langer Zeit renoviert und mit modernem Anbau versehen worden ist. Nach ein paar weiteren Schritten kommt man schon auf die brühlsche Terrasse, die sich in Höhe der Anlegestelle der Weißen Flotte die Elbe entlang zieht, von der man allerdings noch durch eine Brüstung und eine Straße getrennt ist. Hier hat sich vor genau 250 Jahren Graf Brühl einen Garten mit etlichen Bäumchen anlegen lassen und heute läuft dort jedermann umher, wo sich jetzt in den alten Gebäuden, in deren Dachrinnen Grünzeug rankt, Museen und Vorlesungssäle befinden. In der Altstadt kann man also viele Sehenswürdigkeiten anschauen, während man zu Fuß im Innenstadtbereich spazieren geht und in Richtung Stadtrand die Leuchtreklame des VEB Kombinat Robotron auf einem Hochhaus erblicken kann. Über die Georgi-Dimitroff-Brücke kommt man in den Neubaubezirk von Dresden, wo man Hotels, eine moderne Prachteinkaufstraße und Gaststätten findet. Es lebe der Beton.
Dessau
Die restlichen Tage wollten wir in Leipzig verbringen, wo uns eben die 12. Leipziger Jazztage hinzogen und wo am Donnerstag-Abend, unserem dritten Tag in der DDR, auch das erste Konzert stattfand. Und so machten wir uns vormittags auf den Weg, allerdings mit einem Abstecher über Dessau, wo wir uns das dortige Bauhaus, in dem u.a. Walter Gropius wirkte, sehen wollten, was eigentlich auch schon das einzig interessante an dieser Stadt für uns darstellte.
Auf Dessaus Straßen machten wir dann auch Bekanntschaft mit der Polizei der Deutschen Demokratischen Republik, als wir nichtsahnend in eine vierspurige Straße einfahren und vor der nächsten Kreuzung auf zwei Polizeibeamte stoßen, die uns fragen, ob wir nicht gesehen hätten, daß diese Straße gesperrt sei, schließlich sei da vorne ein entsprechendes Schild gewesen, das man mißachtet hätte. Darauf knöpfte man uns 20 Mark – natürlich DM, schließlich ist man ja scharf auf harte Devisen – ab und als Stefan fragte, wie man von hier aus zum Bauhaus kommt, erklärte uns der eine Beamte: „Ja, da fahrn’se geradeaus und dann…….“. Wo diese Straße gesperrt gewesen sein sollte, wissen wir uns die vielen Trabis vor und hinter uns bis heute nicht.
Für diese Schlappe entschädigte uns dann aber das Bauhaus, das etwas außerhalb der Innenstadt liegt und schon 1926 erbaut wurde, was man dem Gebäude mit den riesigen Glasflächen und den niedlichen Balkons auf der Rückseite kaum ansehen kann, was zeigt, wie weit die Bauhäusler ihrer Zeit voraus waren. Als wir feststellen mußten, daß ausgerechnet wenn wir hier sind, die Ausstellung über das Bauhaus geschlossen ist, machten wir uns auf ins Zimmer des zuständigen Menschen, mit dem auch Führungen außerhalb der Öffnungszeiten ausgemacht werden können, so versprach es zumindest das Plakat am Eingang. Im besagtem Raum fragten wir dann, ob irgendwie die Möglichkeit bestünde, heute die Ausstellung zu sehen, worauf die freundliche Frau, die dort anzutreffen war, leider antwortete, daß heute zwar eine Führung sei, aber daß hierzu niemand mehr dazu genommen werden könne und spurtete sogleich fort um den zuständigen Herren zu suchen. Nach einer kurzen Weile stand ein junger Ingenieur vor uns, wohl kaum über 30, der anbot uns kurz in der Ausstellung umsehen zu lassen, was wir natürlich begeistert annahmen. In der Ausstellung kann man Skizzen, Fotos, Modelle, erklärende Tafeln sowie Original-Werkstücke bewundern, zu denen unser Ingenieur auch bereitwillig und mit einem gewissen Enthusiasmus unsere Fragen beantwortete. Nachdem seine Mittagspause, die er für uns geopfert hatte, dem Ende entgegen ging, mußten wir dann wieder raus. So war es also kurz aber interessant – und es gibt doch ab und an nette Leute!
Danach suchten wir noch das heutige Gewerkschaftshaus, einen halbrunden Bau, dessen Modell wir auch in der Bauhaus-Ausstellung gesehen hatten und das von Gropius entworfen wurde. Allerdings war dieses Gebäude mit der Zeit schon so zugebaut und zugewachsen, daß man es als Ganzes gar nicht mehr so richtig wahrnehmen konnte und sich mit Details zufrieden geben mußte.
Leipzig
Am Nachmittag kommen wir dann in Leipzig an wo wir bei einem Kumpel unseres Bekannten übernachten konnten, der in der Trabantenstadt Leipzig-Grünau wohnt, wo in einer Neubausiedlung voller Hochhäuser ungefähr so viele Leute leben wie in einer kleinen Großstadt (also so ungefähr 100.000 Menschen). Dieser Stadtteil wurde eigentlich schon vor vier Jahren fertiggestellt, aber immer noch sieht es hier wie auf einer Baustelle aus, weil die Begrünung noch auf sich warten läßt.
Von hier aus kommt man mit der Tram oder der S-Bahn innerhalb einer halben Stunde in die Leipziger Innenstadt, was pro Fahrt nur ein paar Pfennige kostet. Als erstes schauen wir im noblen Interhotel Astoria vorbei, wo einige Organisatoren des Leipziger Jazz-Club in der Vorhalle sitzen, um hier ankommende Musiker zu empfangen. Das bunte Grüppchen von Jazzfreaks machte sich als Kontrapunkt zu dieser von Eleganz strotzenden Halle sehr gut. Als unsere Bekannten, die bei den Jazztagen auch ein bißchen mitorganisierten und deshalb hierhergekommen waren, ihre Sachen erledigt hatten, ging es in die Innenstadt um noch einen Happen essen zu gehen bevor man sich von 19 Uhr 30 bis Halbdrei nachts, acht Stunden lang dem Jazz in seinem ganzen Spektralbereich hingab. Bemerkenswert ist übrigens, daß jedem für kulturschaffendes Engagement ein paar Tage Sonderurlaub zustehen, so daß sich unsere Freunde während der Jazztage um ihre Arbeit nicht kümmern mußten. Praktische Sache, was!
Während wir nachts also Jazzmusikern aus der DDR und BRD, Rumänien, USA, UdSSR, Schweiz, Österreich, Niederlande, Australien, Großbritannien und Japan zuhörten, schauten wir uns nachmittags Leipzig an.

Eines der herausragendsten Bauwerke Leipzigs ist das 91 Meter hohe Völkerschlachtdenkmal, das am Stadtrand von 1889-1913 zum Gedenken der Völkerschlacht im Oktober 1813 erbaut wurde und heute angeblich als Mahnmal für den Frieden dient. Herausragend kann man dieses Denkmal vor allem deshalb bezeichnen, weil es absolut wuchtig ist und über 500 Stufen gelangt man auf die Plattform dieses teutonischen Bauwerks, von wo aus man eine gute Aussicht hat, die bei klarer Wetterlage wunderbar sein muß. Am Völkerschlachtdenkmal hält die Freie Deutsche Jugend auch regelmäßig größere zeremoniellen Meetings ab, wozu aus dem Bassin vor dem Denkmal extra das Wasser abgelassen wird, um einen schönen großen Platz hierfür trockenzulegen.
In der Deutschen Bücherei, die 1913 in Leipzig eröffnet wurde und sich auf das Sammeln von deutschsprachigem Schrifttum des In- und Auslands spezialisiert hat, konnten wir uns eine interessante Ausstellung zur Geschichte der Schrift und der Papierherstellung ansehen, während wir im Musikinstrumenten-Museum der Karl-Marx-Universität alte Instrumente wie Hammerflügel, Cembali, Orgeln oder ein dreigeteiltes transportables Cembalo sowie etliche Blas- und Saiteninstrumente, worunter sich einige obskure Einzelstücke befinden, bestaunen konnten.
Nach solchen interessanten Touren per Tram und Fußsohle durch Leipzig wird man hungrig und wenn man wie unsereins mittags gefrühstückt hat für den geht’s dann gegen Abend ans Mittagessen. Allerdings muß man erst einmal einen Platz in einer volkseigenen Gaststätte ergattern, was zu manchen Stoßzeiten einfach ans Unmögliche grenzt, weil dann plötzlich alle Essen gehen wollen und bis auf die Straße für einen freiwerdenden Platz anstehen. Ein paarmal hatten wir Glück und kamen genau vor dem großen Gedränge und bekamen in einem gut-bürgerlichen Gasthaus einen recht guten Platz an einem Tisch, an dem schon ein Ehepaar und zwei junge Frauen Platz genommen hatten. Als wir meinten, daß letztere aus dem Westen kommen könnten, weil sie eine Kaufhoftüte dabei hatten, wurden wir von unserem einheimischen Begleiter bitter enttäuscht. Daß man hier mit einer Plastiktüte aus dem Westen rumläuft sei eigentlich nichts ungewöhnliches – schließlich kann man Verwandte und Bekannte dort haben – und außerdem könne man es auch an ihrer Sprache hören, daß sie nach Leipzig gehören. So kann der Anschein trügen. Trotzdem scheinen die Leipziger Großstädter (Leipzig hat 559.000 Einwohner) irgendwie ‚westlicher‘ eingestellt zu sein als die Leute in kleineren Städten wie Dresden oder Dessau. Jedenfalls lief in besagtem Lokal andauernd Musik von Modern Talking und C.C.Catch und ähnlich dekadentem Pop vom Band, das wohl bei irgendeinem West-Sender mitgeschnitten wurde.
Am Sachsenplatz, den sich Jugendliche als abendlichen Treffpunkt ausgesucht haben, konnte man auch ein paar Punks entdecken, was natürlich nicht so überraschend ist, wenn man weiß, daß von Leipziger Punks schon längst illegale Mitschnitte von Live-Concert-Feten existieren, die ins westliche Ausland geschmuggelt wurden und auf Tape vertrieben werden. Ich denke da als Beispiel an die L’ATTENTAT-Aufnahmen, die vom SM-Vertrieb in der Schweiz herausgebracht wird.
Als wir dem Polnischen Informations- und Kulturzentrum einen Besuch abstatten, in dem man polnische Volkskunst, Zeitschriften und auch Schallplatten erwerben kann, mache ich auch eine überraschende Entdeckung in dieser Richtung. Hinter der Schallplattentheke fiel mir nämlich ein LP-Cover in einem komischen Grün in die Augen und bei genauerem Hinsehen entziffere ich als erstes den Bandnamen U.K.Subs. Ich ließ mir diese Platte, die sich als ein Punk-Sampler namens „Backstage Pass“ eines polnischen (Jazz-) Labels entpuppte, zeigen und kaufte sie dann, obwohl ich noch im Unklaren war, ob dies wirklich Originalversionen waren, was sich später allerdings bewahrheitete. Das tolle an dieser Platte war zudem noch, daß nicht einmal die gängigen Punk-Hits enthalten sind, sondern auch unbekanntere 77er-Songs zu hören sind. Surprise Surprise.
Was einem Wessi noch penetrant auffällt, ist die Art und Weise wie man hier z.B. Geschäfte benennt. Im Schallplattengeschäft bekommt man eine Papiertüte der volkseigenen Einzelhandelskette mit der Aufschrift „Konsument“. Diese Protzerei mit westlicher Dekadenz ist einfach erstaunlich, merkwürdig und allerdings auch schon wieder amüsant.
Am Sonntagnachmittag geht’s für uns schon ins letzte Konzert der 12. Jazztage. Es hatte geregnet und die Luft war danach erstaunlich klar und gut, was in dieser Industriegegend selten sein soll. Wir machen uns also auf in Richtung Süden und an der Grenze dauert es diesmal beträchtlich länger, weil sonntagabends einfach alle nach Hause wollen. Als wir schließlich nach Rückbank vorklappen, Motorhaube und Kofferraum öffnen wieder in der Bundesrepublik Deutschland sind, haben wir endlich freie Fahrt und man kann wieder mit einer Geschwindigkeit über 100 km/h gen Heimat düsen. Im Radio hören wir noch Nachtsendungen über Laurie Anderson und Psychic TV, von denen wir erst später herauskriegen, daß sie vom DDR-Jugendradio DT 64 ausgestrahlt wurden.
Natürlich waren diese fünf Tage viel zu kurz um die Gegend hier wirklich kennenzulernen. Ich denke, wir kommen wieder.
Hier noch kurz Büchertips und eine Adresse für Leute, die es vielleicht auch mal in die Deutsche Demokratische Republik zieht:
– „Reisen in die DDR“ heißt ein sehr brauchbares Merkblatt des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen (Vertrieb: Gesamtdeutsches Institut, Postfach 12 06 07, D-5300 Bonn 1), das vor allem bei der Reisevorbereitung sehr nützlich ist und das es kostenlos in Reisebüros geben müßte.
– „Reiseatlas mit 60 Autorouten durch die DDR“ ist ein handlicher DDR-Straßenatlas des VEB Tourist Verlag, dessen 232 Seiten 25 Karten und einen umfangreichen Teil an Ortsbeschreibungen enthalten. Kostenpunkt: 12,50 Mark in der DDR. Ich habs allerdings für 13,40 DM in einem Würzburger pseudo-linken Buchladen erstanden, aber trotzdem dürfte es nicht so leicht zu finden sein.
– Zu guter letzt hier noch die offizielle Adresse des Jazz Club Leipzig: Postfach 543, DDR-7010 Leipzig. Hier gibt es auch die Programme zum Festival, das heuer vom 22.-25. September [1988] stattfinden wird.
– über die letzten Jazztage steht übrigens ein Artikel von Stefan Hetzel in der 12/87-Nummer der Würzburger Stadtzeitung „Herr Schmidt“.
mr.boredom,
1987
Fotos: Stefan Hetzel,
September 1987
Original Layout und Fotomontage:
Framed Dimension D-Sign, 1988
Dieser nur sehr wenig überarbeitete Text stammt aus Heft No. 11 des 10.15 Megazine, vermutlich im Mai 1988 in Würzburg erschienen.
Das Original gibt es hier als PDF:
5_Tage_DDR
Der oben erwähnte Artikel von Stefan Hetzel über die 12. Jazztage Leizpig wurde hier wiederveröffentlicht:
VEB Free Jazz