Posts Tagged ‘Hörspiel’

30 Jahre freiwillig in einer Schachtel

Februar 17, 2011

F.S.K. – Freiwillige Selbstkontrolle ist ein Mode & Verzweiflung Produkt
(3CD-Box, 1980 bis 2009, Disko B)

Schon irgendwie lustig, wenn eine Band mit auf Buback-Label-Tournee geht um ihre bei Disko B erschienene Anthologie der 30-jährigen Bandgeschichte zu präsentieren. Ihr letztes selbstbetiteltes Album war 2009 ihr Debut für Buback. Von da an geht „Freiwillige Selbstkontrolle ist ein Mode & Verzweiflung Produkt“ – so der Name dieser CD-Box – zurück bis ins Jahr 1980, als ihre erste 7″EP auf ZickZack erschien. Diese Compilation ist chronologisch sortiert und beginnt mit Songs aus ihrer frühen Post-Punk-New-Wave-Phase. Anschließend bekommen sie den Blues und interessieren sich eher für amerikanische Musik, allerdings für solche, die von Europa nach Übersee wanderte und holen diese wieder zurück. Das berühmte Transatlantic Feedback also. Da wird der Blue Yodel und die Pennsylfawnisch Schnitzelbank wieder nach Germany gebracht oder alte G.I.-Songs reinterpretiert. Ungereimtheiten und Missverständnisse inbegriffen.

Offensichtlich fließt in die Musik von F.S.K. immer das ein, für was man sich als Band so gerade interessiert. Das sind nicht nur Musikangelegenheiten  (inkl. der Amon Düül-Diskographie), sondern auch Fragen der Philosophie, Gender Trouble und queere Lebensaspekte.

So hat Thomas Meinecke auch zwei Compilations mit solcher in Texas vorgefundener Musik zusammengestellt („Texas Bohemia“ und „Slow Music“, Trikont, 1994/96), ein Hörspiel („Texas Bohemia“, Bayerischer Rundfunk, 1993) produziert und einen Roman geschrieben („The Church of John F. Kennedy“, edition suhrkamp, 1996). Schön nachvollziehbar ist dieses Interesse auch an den Radio-Sendungen, die Thomas Meinecke nachts für bayern2radio macht (und dort sowohl Techno a la Underground Resistance oder Dopplereffekt als auch R&B von Tweet auflegte). Und seine Bücher sind eh ein Parallel-Universum zu F.S.K. – wer „International“ hört, findet in „Tomboy“ das passende Buch dazu.

Nach einer Übergangsphase, in der die Rhythmusbox gegen einen echten Schlagzeuger eingetauscht wurde und man mit David Lowery (von Camper van Beethoven bzw. Cracker) unterwegs war, erschien 1996 eine 12″ mit vier rein instrumental angelegten Tracks. Das war überraschend bei so einer diskursiv-textlastigen Band – aber auch irgendwie zeitgemäß in den Jahren als der sogenannte Post-Rock modern wurde und Techno sowieso. Auf den darauf folgenden Platten hat F.S.K. nach und nach seine Sprache wieder gefunden. Und mit ihrer bereits erwähnten selbstbetitelten Platte knüpften sie dann wieder etwas mehr an ihre wavige Anfangszeiten an. Soweit die Ultrakurzversion dieser Bandgeschichte.

Das letzte Lied dieser Compilation – „Stimme“ – stammt von einem Peter Weibel-Tribute-Album („Der Künstler als junger Hund“, intermedium, 2009) und verweist auf die hörspiel- und medienkünstlerischen Projekte der Band. So hat F.S.K. auch die velvetundergroundeske Musik zur Hörspiel-Produktion „Bambiland“ von Elfriede Jelinek (Regie: Karl Bruckmaier, Bayerischer Rundfunk, 2005) beigesteuert. Davon abgesehen sind Michaela Melián (u.a. mit „Föhrenwald“) und Thomas Meinecke auch solo bereits als Hörspielautoren immer wieder in Erscheinung getreten.

Diese CD-Box ist also eine Zeitreise durch das Werk einer der interessantesten deutschen und deutschsprachigen Nebenerwerbs-Pop-Gruppen (Meinecke ist ja u.a. als Autor unterwegs, Melián als bildende Künstlerin, Wilfried Petzi als Photograph, Justin Hoffmann als Dozent und Kurator, Carl Oesterhelt aka Carlo Fashion als Komponist) und wird durch ein 76-seitiges Büchlein mit vielen Bandfotos und einer diskursiven Abhandlung von Didi Neidhart über F.S.K. ergänzt. Auf einem Faltblatt gibt es noch einen englischsprachigen Text von Franc Myles über die Band zu lesen, dessen Vorderseite die Worte „Heute Disco / Morgen Umsturz / Übermorgen Landpartie“ zieren, die Losung der 1978 gegründeten Zeitschrift „Mode & Verzweiflung“, als deren musikalischer Arm Freiwillige Selbstkontrolle fungiert (und wer will kann diese Losung auch im großen Format DIN B0 ordern). Als kleiner Gimmick liegen der Box noch drei kleine Zahnstocher-Flaggen bei, passend zum Song „Flagge verbrennen (Regierung ertränken)“.

Prädikat wertvoll.

 

Mutter 2011

Dezember 28, 2010

Es gibt nichts unoriginellere als am Jahresende einen Kalender für das kommende Jahr zu verschenken. Aber diesen habe ich mir selbst geleistet, denn in diesem Fall handelt es sich um ein besonderes Exemplar – um einen Pin-Up-Kalender des Westberliner Künstlers Max Müller, seines Zeichens Sänger der Gruppe Mutter. Aber er schreibt für Mutter nicht nur die Texte und singt, sondern spielt auch Gitarre und ist manchmal solo unterwegs. Hier hat er nun 13 Kalenderblätter – bis auf das vierfarbige Deckblatt alle monochrom gehalten – mit seinen im besten Sinne eigenartigen, primitivistischen Zeichnungen gestaltet. Ein gefundenes Fressen nicht nur für Mutter-Fans.

Bestandteil dieses Wandkalenders ist auch ein CD-Cover-Bastelbogen. Denn – und das ist die Überraschung – im Laufe des Jahres darf sich der geneigte Hörer und Kalenderbesitzer auch noch 12 bisher unveröffentlichte Muttermusikstücke („alte Nummern, Live-Aufnahmen, Mitschnitte aus dem Proberaum und ein Hörspiel“) herunterladen, jeden Monat eines. In einem Jahr wird dann die CD-R mit den Downloads gebrannt und ein Cover gebastelt. Ich bin sehr gespannt auf die einzelnen Stücke.

Hier die Playlist:
01 Ein kleines Stück Papier
02 Milch
03 Küss die Hand die dich schlägt
04 Zwischen Zeilen
05 Tag der Idioten
06 Heb dir deine Träne für jemand anders auf
07 Berlin
08 Filmmusik
09 Erlösung von oben
10 Samen für immer
11 Du bist nicht mein Bruder
12 Muttermal
Bonus Track:
13 Dietrich Diederichsen

Sichert euch die Restbestände!
muttermusik.de

Das unsichtbare Monument

Dezember 5, 2010

Michaela Meliáns Memory Loops

Am 23. September 2010 wurde das virtuelle und dezentrale Denkmal „Memory Loops – 300 Tonspuren zu Orten des NS-Terrors in München 1933-1945“ der Künstlerin Michaela Melián offiziell in Betrieb genommen. Nach umfangreicher Recherchearbeit hat Melián, die seit 30 Jahren auch mit der Band Freiwillige Selbstkontrolle unterwegs ist, 300 Audio-Miniaturen in deutscher und 175 in englischer Sprache erarbeitet, die jeweils zu einem bestimmten Ort in München das Schicksal einzelner Menschen während des NS-Regimes erzählen. Diese Dateien kann man mittels einer Website, auf der die entsprechenden Tonspuren in einem stilisierten Stadtplan verortet werden, auswählen, downloaden und zu Tracklists zusammenstellen. Man kann sich aber auch Abspielgeräte in verschiedenen Münchner Museen ausleihen oder an 60 beschilderten Orten per Telefon die passenden Tracks abrufen. Für den Bayerischen Rundfunk, Abteilung Hörspiel- und Medienkunst, wurden fünf lange Memory Loops (zu jeweils ca. 55 Minuten) produziert, die im Herbst 2010 gesendet wurden und ebenfalls als kostenlose Downloads zugänglich sind.

Machart und Ästethik der Memory Loops lehnen sich an Michaela Meliáns Werk „Föhrenwald“ aus dem Jahr 2005 an. Die individuellen „Geschichten“, aus Archivmaterial und Interviews herausdestilliert, werden von Sprechern mit ruhiger, leiser Stimme gelesen und Kinder tragen behördliche Anordnungen und andere offiziellen Verlautbarungen vor. Unterlegt wird dies mit ambienten, reduzierten Loops, die manchmal von Klaviertönen akzentuiert werden. Nichts lenkt vom Thema ab. Durch den Bezug der jeweiligen Hörstückchen zu einzelnen Orten des damaligen Geschehens wird das Gedenken an diese üble Zeit aus seiner Abstraktion geholt und geerdet. Auch für Nicht-Münchner ist das alles mehr als hörenswert und sehr interessant.

PS: Interessant finde ich übrigens auch, daß sich die Stadt München zu so einem flächendeckenden Denkmal durchringen konnte – während das ebenfalls dezentrale Gedenk-Konzept der Stolpersteine meines Wissens dort immernoch nicht genehmigt wurde…

Nachtrag:
Im Mai 2012 wurde Memory Loops für den „Grimme Online Award SPEZIAL“ nominiert.
Siehe: Grimme.

Die Website:
www.memoryloops.net

Die Memory Loops beim Bayerischen Rundfunk:
www.br-online.de

 

Tipp: Michaela Melián live in Hamburg, 29.07.10

Juli 25, 2010

Am 25. Mai 1991 mit Freiwillige Selbstkontrolle in Weikersheim

Konzert-Tipp:

Donnerstag, 29. Juli 2010, 21 Uhr:
MICHAELA MELIÁN
Dockville Kunst / Recreation Ausstellungsprogramm,
Reiherstieg Hauptdeich, Hamburg-Wilhelmsburg

Das Dockville Festival 2010 (13. bis 15. August) wirft seine Schatten voraus – ab 29.07.2010 gibt es schon ein Kunst-Programm mit Ausstellungen, Performances und Konzerten.

Dort wird am oben genannten Termin MICHAELA MELIÁN „ein elektro-akustisches Solo-Konzert auf Olaf Nicolais Arbeit ‚Landschaft‘“ geben. Olaf Nicolai ist der Bruder von Carsten Nicolai (Raster-Noton). Und Michaela Melián ist ebenfalls eine bildende Künstlerin, die man vielleicht eher als Bassistin der Band Freiwillige Selbstkontrolle (bzw. F.S.K. / FSK) kennt, die 1980 ihre erste 7“-EP veröffentlichte und seitdem verschiedenste stilistische Phasen durchgemacht hat (New Wave, Transatlantic Feedback, Instrumental-Musik…).

Vor sechs Jahren erschien ihre erste Solo-Platte „Baden-Baden“, 2007 folgte „Los Angeles“. Mit Unterstützung ihres Band-Kollegen Carl Friedrich Oesterhelt (aka Carlo Fashion) entstand hier reduzierte, pulsierende elektronisch wirkende Musik, die allerdings nicht rein elektronisch produziert wurde. Michaela Melián spielt ja auch Bass und Cello, singt aber eher selten – z.B. auf den beiden Roxy Music-Cover-Versionen, die ihre Solo-Alben jeweils abschließen. Ähnlich faszinierende Musik gibt es auch in der Installation (und gleichzeitig Hörspiel) „Föhrenwald“ zu hören, in der die Geschichte dieser 1937 erbauten Mustersiedlung und späteren Durchgangslagers thematisiert wird. Am 23. September 2010 startet ihr Werk „Memory Loops“, ein virtuelles Denkmal mit „300 Tonspuren des NS-Terrors in München“.

Aber am kommenden Donnerstag freuen wir uns erstmal auf ein Konzert von Michaela Melián.

PS: Schade, dass Michaela Melián an diesem Abend dann doch verhindert war.

Weiterführende Links:

Dockville Kunst Programm
Konzertankündigung

Memory Loops

3 Pop Bücher 1998

Mai 1, 2010

Pop-Literatur ist schon ein komischer Begriff. Wörtlich gelesen müsste er für populäre Literatur stehen – also für alles, was der Allgemeinheit zumindest vom Namen her etwas sagen müsste. Bei den Büchern, die hier nachfolgend eine Rolle spielen, handelt es sich allerdings um Literatur, die Pop-Musik zum Thema hat oder zumindest im Umfeld einer pop-kulturellen Praxis entstand, die auch mehr oder weniger aktuelle Pop-Diskurse aufgreift. Hier soll die Rede sein von Andreas Neumeister und von Thomas Meinecke, zwei (zufälligerweise) in München ansässige Autoren. Danach als Bonus noch kurz etwas über Herrn Wolfgang Müller.

Andreas Neumeisters Buch „Gut laut“ (Suhrkamp 1998) wird vom Verlag zwar als Roman geführt, hat aber meines Erachtens mit dieser Erzählform wenig zu tun. Eher handelt es sich hier um einen Gedankenstrom, der sich insbesondere um München und Musik sowie damit verbundenen Kindheitserinnerungen dreht. Es geht um The [Disco-] Sound Of Munich und das glamouröse München der 70er Jahre, aber auch um das München der Jetztzeit, in dem Leute wie DJ Hell leben und arbeiten. Unterbrochen wird dieser Gedankenstrom immer wieder durch z.B. Bildunterschriften – zu denen es keine Abbildungen gibt -, Auflistungen verschiedenster Dinge (darunter auch recht komplett wirkende, literarisch spielerisch verpackte Zusammenstellungen der Pseudonyme/Projekte von Aphex Twin oder Mike Ink) oder auch einfach mal einer leeren Seite (Stille im Sinne von John Cage?). Kompositionsprinzipien und Stilelemente, wie sie Neumeister auch schon bei seinem Vorgänger „Ausdeutschen“ (1994) verwendet hat, aber hier zum Thema Musik besser passen. Gerne wird soetwas mit der Tätigkeit eines DJs verglichen und in der Tat ist Neumeister auch als DJ und sogar als Hörspielautor unterwegs. Aber gab es soetwas ähnliches – okay, in radikalerer Form – in der Literatur nicht längst vor der Sampletechnologie und wurde damals Cut-Up genannt? Auf jeden Fall ist dieses Buch eine Freude für alle, die mit orange-schwarzen BASF-Cassetten und Lego-Bausteinen aufgewachsen sind und sich für Plastikmusik der 70er, 80er, 90er Jahre – also für Disco, New Wave, (Minimal) Techno und all dem Pop interessieren. Schöne Sache und ohne lästigen theoretischen Überbau.
Einzelne Textabschnitte aus „Gut laut“ fanden übrigens auch Eingang in die Hörspielproduktion „Prima leben und sparen“, die er zusammen mit Robert und Ronald Lippok von To Rococo Rot unter dem Projektnamen DOLORES im Jahr 1998 für den Bayerischen Rundfunk realisierte. Spätestens hier wird deutlich, dass diese Texte gut dafür geeignet sind, laut vorgetragen zu werden. Wen wundert es da, dass Neumeister 1996 den Sammelband „Poetry!Slam!“ zusammen mit Marcel Hartges herausgegeben hat…

„Tomboy“ (Suhr camp, 1998) von Thomas Meinecke wird ebenfalls als Roman kategorisiert, obwohl sich dieses Buch genauso wenig wie „Gut laut“ um die Pflege dieses Formates kümmert. Viel mehr reihen sich hier kurze Abschnitte aneinander, die wie Dreiminuten-Pop-Songs zusammen ein Konzeptalbum ergeben. In „Tomboy“ geht es um feministische Männer, um Frauen, die Frauen lieben, um Frauen, die Frauen lieben, die eigentlich Männer sind usw. usf. – gender troubles at it’s best. Das ganze spielt im Odenwald bzw. im lieblichen Heidelberg. Hier wird natürlich die Gelegenheit an Schopf gepackt, das dort ansässige Source Label mit ins Spiel zu bringen. überhaupt spielt Musik in diesem Buch eine nicht gerade kleine Rolle – mal reden die Protagonisten über irgendwelche Schallplatten oder Bands, die mehr oder weniger Bezug zum Thema haben. Für einen Vortrag von Judith Butler fährt man zwischendurch mal nach München. Ansonsten trifft man sich und diskutiert irgendwelche literarische Texte oder wissenschaftliche Quellen, auf die man als Philosophiestudentin gestoßen ist. Oder man liest sich gar vor (das Wort „man“ wurde von Thomas Meinecke übrigens ganz ausgemerzt und taucht in Tomboy auf keiner Seite auf. Politische Korrektheit bis ins Detail). Auf diese Weise werden verschiedenste Theorie- und Literaturschnipsel in dieses Buch hineingesampelt und anschließend mittels der mehr oder weniger agierenden Figuren zusammengehalten. Und zwischendurch gibt es noch ein paar banale Geschichten zu erleben, zu denen Meinecke bestimmt durch kleine Zeitungsmeldungen inspiriert wurde. Geschichten, die das Leben schrieb.
Mit der Frage „Warum kann ein Mann nicht lesbisch sein“ und dem Thema ‚Mark Twain in Heidelberg‘, das in diesem Buch auch kurz angeschnitten wird, hat sich Meinecke bereits vor Jahren in Liedform beschäftigt – zu hören auf der LP/CD „International“ von F.S.K. (1996, SubUp). Und den Titel „Tomboy“ trägt bereits ein im Jahr 1995 entstandenes Kunstwerk von Michaela Melián, der Musikerkollegin und Lebensgefährtin von Thomas Meinecke, das auszugsweise auch für das Layout des Schutzumschlages herangezogen wurde. Meinecke & Co. scheinen sich also schon länger mit dem Thema Gender zu beschäftigen. Im Katalogbuch zu Meliáns Ausstellung „Tomboy“ (1995) in der Kunsthalle Baden-Baden ist auch ein offensichtlich improvisierter Text von Thomas Meinecke und Thomas Palzer zu diesem Thema mit der Überschrift „I Gave My Cock A Woman’s Name“ enthalten. Und dieser Text fand wiederum Eingang in den Sammelband „Poetry!Slam!“. Der Kreis schließt sich. Die Welt ist klein. Hauptsache wir lassen die Kirche im Dorf.

Das Buch „Blue Tit – das deutsch-isländische Blaumeisenbuch“ des ehemaligen Mitglieds der Geniale-Dilletanten-Künstlergruppe Die Tödliche Doris wurde mindestens zwei Buchmessen lang als das bevorstehende neue Buch von Wolfgang Müller angekündigt und erschien letztendlich im Juli 1998 beim Martin Schmitz-Verlag. Vielleicht hat es sich vor allem durch die Übersetzung ins Isländische – das deutsch-isländische Blaumeisenbuch ist in der Tat zweisprachig gehalten! – verzögert. Oder lag es an den exzessiven Recherchearbeiten? Denn nahezu jede Kleinigkeit wird mit einer Fußnote belegt. Höhepunkt dabei sind die über zwanzig Anmerkungen zu Andreas Doraus Song „Blaumeise Yvonne“. Soviel übertriebener Fleiß läßt an Ironie denken.
„Blue Tit“ ist also kein Roman und schon gar kein Sachbuch zum Thema „Blaumeisen in Island“ – denn diese Meisenart gibt es dort garnicht – sondern ein alphabetisch geordnetes Sammelsurium zur isländischen Kultur. Und da packt Müller alles rein, was ihn so beschäftigt und interessiert. Das geht von Elfen über Flechten und Meisenknödel bis hin zu Islands einzigem Transsexuellen und anderen Obskuritäten. Diese einzelnen Sachverhalte werden teilweise in Art von Zeitungsreportagen dargelegt oder in Form von Interviews näher gebracht. Wobei einzelne Kapitel ja auch bereits tatsächlich in Zeitungen wie der Berliner taz veröffentlicht wurden. Desweiteren sind hier die schriftliche Dokumentationen eines Hörspiels sowie Auszüge aus einem Roman von Úlfur Hródólfsson enthalten, der offensichtlich mit Wolfgang Müller identisch ist. Trotz allem erfährt man viel Wissenswertes über Island und seine Seltsamkeiten, sollte diese Informationen aber am besten persönlich am Ort nachprüfen. Solche Schlitzohren wie Wolfgang Müller darf man nun mal nicht wörtlich nehmen, vor allem, weil da ein recht verschrobener Humor mitschwingt, der mit so ernster Miene dargeboten wird, dass unvorbereitete Menschen in Schleudern geraten könnten. Oder handelt es sich hier etwa doch um Kunst?

(überarbeitete Wiederveröffentlichung, geschrieben im Januar 1999 für Bad Alchemy)

typische Scheiße und nie gehörte musik

April 27, 2010

Various Artists:
Das Dieter Roth oRchester spielt kleine wolken, typische Scheiße und nie gehörte musik
(CD, intermedium rec. 026, 2007)

„Das Dieter Roth oRchester spielt kleine wolken, typische Scheiße und nie gehörte musik“ hatte anno 2006 seine Ursendung auf Bayern2Radio, wo die Hörspiel- und Medienkunst liebevoll gehegt und gepflegt wird. Dabei handelt es sich bei dieser Hommage an den bildenden Künstler Dieter Roth eher um eine Compilation liedhafter Interpretationen dessen literarischer Ergüsse, herausgegeben von Wolfgang Müller und Barbara Schäfer. Roth war auch auf dem schriftstellerischen Gebiet überproduktiv. Diese CD stellt also eher ein Album von Neu-Interpretationen dar und kein Hörstück im eigentlichen Sinne. Die Idee hierzu stammt vom ebenfalls bildenden Künstler und Island-Fan WOLFGANG MÜLLER (alias Úlfur Hródólfsson, ex Die Tödliche Doris) der das Roth-Buch „Frühe Schriften und typische Scheiße“ irgendwann in einem Berliner Wühltisch für 3 Mark entdeckte. Und damit wohl auch seine Geistesverwandtschaft – war der ebenfalls in Island wirkende Dieter Roth nicht auch irgendwie ein, äh, genialer Dilettant, ein Bruder im Geiste? Für sein Projekt holte sich Müller u.a. Unterstützung bei alten Bekannten wie Brezel Göring und Françoise Cactus (Stereo Total, Wollita), bei seinem Bruder MAX MÜLLER sowie dessen Band MUTTER, aber auch bei KHAN, TRABANT (aus Island) oder NAMOSH. Wolfgang Müller, der solo zu trivialem Electro-Pop neigt, steckt wiederum hinter dem WALTHER VON GOETHE QUARTETT und den beiden schwulen Stoffpuppen ARMAND & BRUNO, die sich mit der Häkelpuppe WOLLITA angefreundet hatten als diese als sexistisches (Nicht-) Kunstwerk von der Berliner Boulevard-Presse angefeindet wurde (zu diesem Thema ist übrigens ein Taschenbüchlein mit 3“CD im Martin Schmitz Verlag erschienen). Überraschenderweise ließen sich die Texte von Dieter Roth auch zu wunderbaren Popsongs formen. Die Beiträge von STEREO TOTAL oder WOLLITA sind in dieser Hinsicht zwei Meisterwerke. ANDREAS DORAU schafft es leider nicht daran anzuknüpfen, ihm gelingt trotzdem ein für ihn typisches Electro-Groove-Stück. Überhaupt klingen viele Tracks typisch für ihre Erzeuger. Offensichtlich lassen diese Texte hierzu genügend Spielraum – im Gegensatz zu gängigen Musik-Tribute-Projekten. GHOSTDIGITAL (ein Projekt eines ehemaligen Sugarcubes-Musikers) erinnern mich irgendwie an Therofal von The Blech im bassbetonten Elektronikkleid, welches bei mir wiederum Assoziationen an Werke von Goebbels/Harth aus den 1980ern erweckt. Nach 17 Beiträgen nicht ganz so vieler Künstler gibt es als Zugabe mit „doit again“ noch ein verschroben groovendes Stück von MOUSE ON MARS. Insgesamt gilt: typische Scheiße, interessant aufgearbeitet!

(geschrieben im Oktober 2007 für Bad Alchemy 55)

Fantas Schimun in Stereo

Januar 16, 2010

Fantas Schumi Cover

FANTAS SCHIMUN
Variationen über die Freiheit eines anderen /
Der Himmel ist blau – Ein Alptraum in Stereo

(DoLP, ZickZack, ZZ 2026)

Zuerst erscheint mir der Name dieser aus Wien stammenden Künstlerin unbekannt. Aber dann kommt mit dem vierten Titel ein Wiedererkennen: „Ich bin bis auf weiteres eine Demonstration“ war anno 2003 der Titelgeber einer ZickZack-Compilation. Auf selbigem Label ist nun eine Doppel-LP erschienen, die sich deutlich zweiteilt. Auf den Plattenseiten drei und vier wird eine Art Hörspiel dargeboten, in dem es um Liebe, Eifersucht und einen der ersten Billigflüge zum Mars geht. Bestechend schön die Nebeneffekte der in der Tonhöhe künstlich veränderten Stimmen. Unterbrochen wird diese medienkünstlerische Heimarbeit immer wieder durch songartige Stücke – wobei „Eia weia weg“ bereits auf einem weiteren ZickZack-Sampler zu finden war. Abgeschlossen wird dieses Werk durch „Herztropfen für‘s All“, einer Cover-Version des S.Y.P.H.-Songs „Nur ein Tropfen“. Das war nun also vermutlich der aus älteren Zeiten stammende Bonus zum eigentlichen Album. Während das Hörspiel und die Samplerbeiträge ungezwungen experimentell anmuten, wirken die neueren (?) Stücke eher wie urbane Folk Songs. Über Loops von beispielsweise Vogelgezwitscher und Bahnlärm oder rückwärts laufenden Spuren singt Fantas Schimun zur akustischen Klampfe in englischer und deutscher Sprache – und läßt sich dabei ab und zu gerne von elektrischem Gitarrenlärm stören. Das ist stellenweise herzzerreißend schön, z.B. bei „Everythings’s Far“ oder „Forget Her“. Und der instrumentale Titelsong „Variationen über die Freiheit eines anderen“ erinnert fast ein bißchen an das Penguin Cafe Orchestra. Keine Platte aus einem Guss, eher ein Sammelsurium, aber sympathisch und mit sehr schönen Perlen! Eine EP nur mit den englisch gesungenen Titeln (inkl. „Bon Tempi“) könnte ein Verkaufsschlager auf dem Mars werden.

(geschrieben am 14.01.2010 für Bad Alchemy 65)